AI Impact - KI in Gesellschaft, Bildung & Kultur
Prüfungsformate im Zeitalter von KI

Prüfungen stehen seit langem im Zentrum des Bildungssystems, weil sie Wissen und Fähigkeiten sichtbar machen und vergleichen sollen. Heute aber rückt stärker die Frage in den Vordergrund, wie diese Funktionen im Zeitalter generativer KI überhaupt noch zuverlässig erfüllt werden können. Doch mit dem Aufkommen generativer KI geraten diese Funktionen ins Wanken. KI-Sprachmodelle können Aufgaben wie Recherchieren, Zusammenfassen oder Ausformulieren schneller und präziser lösen als viele Lernende. Lehrende wie auch Studierende fragen sich: Wie ernstzunehmend sind Prüfungsleistungen noch, wenn KI sie unterstützen oder sogar übernehmen kann? Und wie lässt sich sicherstellen, dass Lernende tatsächlich Kompetenzen erwerben? 
Klassische Prüfungsformate unter Druck
Essays oder Hausarbeiten geraten durch den Einsatz von KI zunehmend an ihre Grenzen. Mit wenigen Eingaben lassen sich heute komplette Texte generieren, was nicht nur Eigenständigkeitserklärungen fragwürdig erscheinen lässt, sondern vor allem die Frage aufwirft, ob solche Aufgaben den Bildungsansprüchen noch gerecht werden. Prüfungsformate geraten dadurch insgesamt unter Druck: Einige Hochschulen in Deutschland haben bereits das Format der Bachelorarbeit abgeschafft, weil nicht mehr nachvollziehbar ist, wer diese Arbeiten geschrieben hat. Bildungsanbieter reagieren mit unterschiedlichen Strategien – von Dokumentationspflichten über Reglementierungen bis hin zu Verboten der KI-Nutzung.
Zudem ist die emotionale Belastung vieler Lernenden hoch: Oft stehen sie unter dem Verdacht[1], ihre Arbeiten nicht selbst verfasst zu haben. Der Druck steigt zusätzlich, wenn Lehrkräfte auf unzuverlässige KI-Detektoren[2] vertrauen, die falsche Ergebnisse liefern und so zu ungerechten Bewertung führen. Für Prüfungen stellt sich daher die Frage, wie Täuschungen vermieden und gleichzeitig faire Bedingungen gesichert werden können. Deutlich wird dabei: Prüfungen müssen den Fokus stärker auf Kompetenzen wie kritisches Denken, Urteilsvermögen und den reflektierten Einsatz von KI richten.
Neue Anforderungen an Prüfungen im KI-Zeitalter
Wenn generative KI Routinetätigkeiten übernimmt, verschiebt sich der Fokus stärker auf andere Kompetenzen: die kritische Bewertung und Einordnung von Quellen, die Fähigkeit, Informationen im Kontext zu reflektieren, sowie die Entwicklung einer eigenen Urteilsfähigkeit. Ebenso unverzichtbar ist der bewusste und reflektierte Umgang mit KI-gestützten Werkzeugen. „AI Literacy“ bedeutet daher weit mehr, als nur Prompts zu formulieren. Sie umfasst auch das Erkennen von Grenzen, das kritische Prüfen von Ergebnissen und das bewusste Dokumentieren des eigenen Vorgehens. Damit knüpft dieser Kompetenzrahmen unmittelbar an die Herausforderungen der klassischen Prüfungsformate an, die unter Druck geraten sind, und macht deutlich, dass die Auseinandersetzung mit KI nicht nur ein technisches, sondern auch ein pädagogisches und ethisches Lernfeld ist.
Damit verbunden ist aber auch die Gefahr des „Skill Skipping“: Lernende überspringen Lernprozesse, weil KI Aufgaben schneller erledigt, noch bevor ein grundlegendes Verständnis aufgebaut wurde. Hier braucht es eine Balance. Basiskompetenzen – wie strukturiertes Argumentieren, die Fähigkeit, Texte selbst zu gliedern, oder Grundlagen mathematischen Denkens – dürfen nicht verloren gehen. Prüfungen müssen also sichtbar machen: eigenständiges Arbeiten, den Aufbau und die Anwendung grundlegender Basiskompetenzen sowie den verantwortungsvollen Umgang mit KI.
Ein weiterer zentraler Punkt ist die Fairness und damit die Frage nach Bildungsgerechtigkeit. Damit alle Lernenden gleiche Chancen haben, braucht es auch einen gleichwertigen Zugang zu den eingesetzten KI-Tools. Eine Recherche des Chaos Computer Clubs aus dem Jahr 2024 hat beispielsweise gezeigt, dass ein in Rheinland-Pfalz eingesetztes KI-System Arbeiten, die mit einer Bezahlversion von ChatGPT erstellt wurden, systematisch besser benotete als solche, die mit frei zugänglichen Modellen verfasst waren. Das stellt einen klaren Verstoß gegen den Anspruch auf Bildungsgerechtigkeit dar und verdeutlicht, dass Prüfungen nur dann fair sein können, wenn Transparenz über den KI-Einsatz besteht und keine ökonomischen oder gesellschaftlichen Hürden zu ungleichen Bewertungen führen. 
Lösungsansätze: Prüfungen neu denken
Die aktuellen Entwicklungen sind eine Chance, Prüfungen grundlegend weiterzuentwickeln. Das derzeitige Bildungs- und Prüfsystem ist bereits viele Jahrzehnte alt und stößt an seine Grenzen: Verbote oder bloße Reglementierungen reichen nicht mehr aus, um mit digitalen Veränderungen Schritt zu halten. Deshalb ist es unabdingbar, Prüfungsformate und Methoden grundlegend zu verändern. Im Folgenden werden vier zentrale Ansätze vorgestellt, die als Leitlinien dienen können, wie Prüfungen neu gedacht und umgesetzt werden können:
- Projektbasiertes Lernen und Prüfen: Reale, komplexe Problemstellungen können im Mittelpunkt stehen. Projekte, die fachübergreifend angelegt sind, fördern Zusammenarbeit, Kreativität und Problemlösungskompetenz. In Prüfungen lassen sich so nicht nur Ergebnisse, sondern auch die Fähigkeit bewerten, Wissen in neuen Kontexten anzuwenden.
- Prozessorientiertes Prüfen: Prüfungen müssen den Lernprozess stärker einbeziehen. Feedback-Schleifen, Peer-Reviews oder Lernjournale eröffnen Einblicke in Denkwege und Strategien. Das Ergebnis zählt, aber ebenso die Entwicklung dahin. So wird sichtbar, welche Kompetenzen aufgebaut wurden, auch wenn das Endprodukt nicht perfekt ist.
- Integration von KI ins Prüfungssetting: Statt KI zu verbieten, könnte sie Teil der Prüfung sein. Lernende dürfen Tools nutzen – jedoch mit der Verpflichtung, den Einsatz offenzulegen und kritisch zu reflektieren. Prüfungen könnten so nicht nur den fachlichen Output bewerten, sondern auch den verantwortungsvollen und transparenten Umgang mit KI.
- Mündliche und kontextbezogene Prüfungen: Auch stärker mündlich geprägte Formate, Verteidigungen oder Präsentationen bieten Chancen. Sie ermöglichen Lernenden, ihre Arbeit zu erläutern und zu reflektieren. Aufgaben mit persönlichem oder regionalem Bezug können KI-Einsatz erschweren und zugleich authentische Lerngelegenheiten schaffen.
Perspektive: Prüfungen als Lerngelegenheiten
Wenn Prüfungen mehr sein sollen als reine Kontrolle, müssen sie stärker als Lerngelegenheiten verstanden und gestaltet werden. Sie sollten nicht in erster Linie Defizite aufzeigen, sondern vielmehr Lernfortschritte sichtbar machen und würdigen. So können Prüfungen zu Räumen werden, in denen Lernende Selbstwirksamkeit erfahren – weil sie ihre Fähigkeiten zeigen, reflektieren und weiterentwickeln können. Entscheidend ist dabei eine stärkere Betonung von Lernbegleitung und individuellen Lernwegen, statt am starren Format einer klassischen Abschlussarbeit festzuhalten.
Transferleistungen, mündliche Elemente und kontinuierliches Feedback müssen stärker in den Vordergrund treten. Das erfordert nicht nur neue Prüfungsaufgaben, sondern auch strukturelle Veränderungen in den Bildungseinrichtungen. Anpassungen an Curricula, Prüfungsordnungen, Gruppengrößen, Personaldichte und rechtliche Rahmenbedingungen sind notwendig, um diese Transformation zu ermöglichen. Der Gewinn kann jedoch groß sein: Prüfungen werden zu Spiegeln des Lernens, die Lernende nicht klein machen, sondern sie stärken und motivieren. Gleichzeitig eröffnet die individuelle Begleitung des Lernweges durch KI das Potenzial, den Bildungsbereich sogar menschlicher zu gestalten – weil sie Freiräume für persönliche Zuwendung, passgenaues Feedback und individuelle Förderung schafft.
[1] https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC9702763/?utm_source=chatgpt.com
[2] https://www.theguardian.com/technology/2024/dec/15/i-received-a-first-but-it-felt-tainted-and-undeserved-inside-the-university-ai-cheating-crisis?utm_source=chatgpt.com